Die Barmherzigkeit Gottes im Islam

Basmala

Bismi llahi l-rahmani l-rahim – Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Allbarmherzigen. So beginnt der Koran, es ist der erste Vers der ersten Sure.

Überschriftartig steht er am Anfang und nennt gleich doppelt die herausragende Eigenschaft des einen Gottes, den der Koran verkündet: seine Barmherzigkeit. Die basmala, wie kurz und bündig die ganze Sequenz genannt wird, steht als Anfangssatz im Koran. Dies wäre an sich schon eine herausragende Stelle; doch sie steht nicht nur vor der ersten Sure, sondern – außer vor Sure 9 – vor jeden einzelnen der 114 Suren. Wieder und wieder werden die Gläubigen an die Barmherzigkeit Gottes, seine weitaus am häufigsten genannte Eigenschaft, erinnert. Alle folgenden Korantexte liest man im Licht der Barmherzigkeit, die in die Verkündigung mit einfließt. Anhand dieser basmala erschließt sich die Bedeutung, die der Barmherzigkeit Gottes in der islamischen Theologie zukommt. Mit ihr lässt sich aber auch all das entfalten, was sich an Vorstellung und Bedeutung in dem mit Barmherzigkeit wiedergegebenen Begriff bündelt.

Die Bedeutung des Begriffes rahman – barmherzig

Um die Bedeutung des arabischen Wortes für Barmherzigkeit zu erfassen, ist ein kleiner Ausflug in die Sprache nötig. Wenn man sich die arabische Form der basmala ansieht, dann fällt die Ähnlichkeit der beiden Worte rahman und rahim auf. Die Buchstaben r, h und m kommen in beiden Wörtern vor, nur die Vokale (a und i) sind verschieden gesetzt. In den semitischen Sprachen, zu denen neben dem Arabischen auch das Hebräische gehört, werden Wörter aus meist drei Grundkonsonanten gebildet, wie hier r, h und m. Je nachdem, wie die Vokale dazwischen, davor oder danach gesetzt werden, unterscheidet sich die Bedeutung des Wortes etwas. In unserem Fall kommt das erste, l-rahman, nur als Substantiv als Name Gottes „der Barmherzige“ vor, rahim dagegen als substantiviertes Adjektiv, ebenfalls „der Barmherzige“. Um im Deutschen die Unterschiedlichkeit zum Ausdruck zu bringen, wird in der Übersetzung oft abgewechselt: „der Erbarmer, der Barmherzige“. In den deutschen Koranausgaben variiert diese Wiedergabe leicht.

Diese Wortwurzel r-h-m gibt es in allen semitischen Sprachen. In der Grundbedeutung verweist es im Hebräischen wie im Arabischen auf den Mutterleib, genauer den Mutterschoß. Dort wird das Mitleid und die Barmherzigkeit verortet. Damit wird sie nicht nur als Einstellung, sondern als körperliche Reaktion beschrieben, wie auch sonst Gefühle im Körper lokalisiert werden. Allerdings werden die Organe oft ganz anderen Gefühlen zugeordnet, als wir es gewohnt sind. So sitzen Gefühle im Unterleib, das Herz dagegen wird als Sitz des Verstehens angesehen. Barmherzigkeit bedeutet dann eigentlich: die Eingeweide drehen sich um, das Innerste wird zuoberst gekehrt und Erbarmen, Mitleid oder Barmherzigkeit gewinnen die Oberhand.

Die Barmherzigkeit Gottes im Koran

Die Rahma Gottes gehört nach isla­mischem Gottesverständnis zu der herausragenden Eigenschaft Gottes. In der Theologie wurde sie zum ersten Handlungsprinzip Gottes erhoben. Auf sie kann der Mensch zählen denn Gott hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet.

„Euer Herr hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet. Wenn (demnach) einer von euch in Unwissenheit Böses tut und dann später umkehrt und sich bessert (findet er Gnade). Gott ist barm­herzig und bereit zu vergeben“ (Sure 6,54).

Gott ist der Barmherzige und der Erbarmer, weil er als Schöpfer der Welt allmächtig ist – und dadurch fähig, sich immer wieder als barmherzig zu erweisen. Gott als der gütige Schöpfer des Menschen und der Welt handelte dabei aus eigenem Entschluss und ohne Mitwirkung anderer We­sen. Die Ausschließlichkeit seiner Schöpfungstätigkeit begründet auch die alleinige Anbetungswürdigkeit. Dabei ist die Schöpferrolle Gottes sehr weit gefasst. Denn auch das Schreibrohr, die Schreibkunst und viele andere Kulturgüter werden als Gottes Schöpfung zugunsten der Menschen betrachtet. Er ist eben nicht nur der Schöpfer, sondern auch der gütige Versorger. Er schafft nicht nur einmal den Menschen, sondern er schafft den Menschen in jedem Stadium neu. Gott ist in einem hohen Maß fürsorglich den Menschen und den Lebewesen gegenüber.

Ohne diesen schenkenden Gott kann der Mensch sich auch nicht Gott unterwerfen, seine Gnade, seine Barmherzigkeit ist immer Vorgabe vor den Anstrengungen des Menschen, sie geht ihrer Hinwendung zu dem einzigen Gott voraus. Zwar gehören in der Theologie im Islam auch andere Eigenschaften zu Gott wie Zorn, Gerechtigkeit, Liebe, Treue oder Herrschaft. Doch in dieser Spannung teilweise gegensätzlicher Eigenschaften  bleibt Gott barmherzig den Menschen gegenüber – und war es schon von Anfang an. Das Erbarmen kommt nicht nur den Gläubigen zu. Die ganze Schöpfung, die Natur, der Wechsel der Jahreszeiten, Wind, Regen und das erneute Aufblühen der Natur im Frühjahr sieht der Koran als Zeichen der Barmherzigkeit allen Menschen gegenüber.

„Und Er ist es, der die Winde als frohe Kunde seiner Barmherzigkeit vorausschickt. Und Wir lassen vom Himmel reines Wasser herabkommen, um damit eine abgestorbene Ortschaft zu beleben und um es vielen von dem, Was Wir erschaffen haben, Vieh und Menschen, zu trinken zu geben.“ (Sure 25,48f.)

Ohne Barmherzigkeit Gottes kann niemand gläubig sein. Denn aus Barmherzigkeit heraus hat sich Gott den Menschen offenbart und seine Botschaft von Anfang an durch seine Propheten gesandt. Weil die Menschen aber ihrer Bestimmung nicht immer nachkamen, hat Gott immer wieder Propheten erweckt, die die Menschen auf den richtigen Weg führen sollten. Adam zählt als der erste der Propheten. Die Tora, die Propheten, Jesus und Muhammad und schließlich der Koran selbst erweisen sich als barmherziges Handeln an den Menschen, denn nur durch sie ist der Mensch fähig, sich dem einzigen Gott zuzuwenden. Aus Barmherzigkeit hat er sich den Menschen immer und immer wieder zu erkennen gegeben. Ohne dieses gnädige Entgegenkommen Gottes wäre gar keine adäquate Antwort auf seine Offenbarung möglich.

Die Fatiha als Grundgebet des Islam

Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.
Lob sei Gott
dem Herrn der Welten,
dem barmherzigen Erbarmer,
dem Herrscher des Gerichtstages.
Dir dienen wir, Dich rufen wir um Hilfe an:
Führe uns den geraden Weg,
den Weg derer, denen du Gnade erwiesen hast,
und nicht derer, die Gegenstand des Zorns sind
und in die Irre gehen. (Sure 1)

Die basmala leitet die erste Sure, die Fatiha, nach ihrer Platzierung am Anfang „die Eröffnende“ genannt, ein. Sie nimmt als Gebet eine herausragende Stellung in der islamischen Theologie und Frömmigkeit ein. Die Eröffnungssure formuliert zentrale Glaubensinhalte. Darin kommt der Zusammenhang von Gottes Macht und Barmherzigkeit und der Möglichkeit der menschlichen Antwort deutlich zum Ausdruck. Mit ihr beginnt jedes Pflichtgebet, das fünfmal am Tag gebetet werden soll. Sie wird bei vielen Anlässen als grundlegendes Gebet rezitiert. Ihre Bedeutung entspricht der, die das Vater Unser in der christlichen Tradition erlangt hat. Gott gebührt zunächst Lob als Schöpfer, Erbarmer und Herr über das Ende der Schöpfung. Er allein kann aufgrund seiner Barmherzigkeit die Rechtleitung gewähren, damit die Menschen seine Wege gehen können. Aus eigener Kraft ist dies gar nicht möglich. Und so prägt auch die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes die Erwartung des Gerichtes im Jenseits. Es gibt ein Gericht, aber die Barmherzigkeit gibt das Grundgefühl einer Geborgenheit im liebevollen Entgegenkommen des barmherzigen Gottes.

Barmherzigkeit Gottes in der Volksfrömmigkeit

Angesichts der Bedeutung der basmala überrascht es nicht, dass sie den Weg vom Koran über das Gebet in die Frömmigkeit des Alltags gefunden hat. Sie ist zum Segen geworden, der bei fast allen Anlässen gesprochen werden kann: als Tischgebet vor dem Essen, vor wichtigen Unternehmungen, vor einer Reise bei Feiern oder bei rechtlichen Zeremonien (wie der Heirat). In der Kalligraphie, der Kunst, die die arabische Schrift selbst als Kunstwerk gestaltet, bot sich die Gestaltung der basmala für vielfältige Formen an (vgl. die Abbildungen). Sie wird als Schmuckstück um den Hals getragen oder ziert in Amulettform das Auto. Kunstvolle Gestaltungen zieren Manuskripte und Architektur. Natürlich ranken sich auch Volkstraditionen um die basmala. So soll sie Adam auf die Brust, dem Engel Gabriel auf die Flügel und Jesus auf die Zunge geschrieben gewesen sein. Solche Traditionen stärken die Bedeutung dieser Anrufung Gottes – eine Bedeutung, die nur noch der Einzigkeit Gottes im Glaubensbekenntnis zukommt.

Die Barmherzigkeit des einen Gottes

Die Barmherzigkeit Gottes ist kein Freibrief für verwerfliches Handeln – das stellt die Rede vom Gericht klar. Die Barmherzigkeit gibt den Menschen erst die Chance, nach Gerechtigkeit, Gegenseitigkeit und Solidarität sowie nach der Verehrung des einen Gottes zu streben. Das ist die dankbare Antwort von Menschen auf das Entgegenkommen Gottes – bei allen Fehlern, die Menschen begehen. Diese Einsicht in die Güte Gottes verbindet den Islam mit dem Judentum und dem Christentum. Die Bibel spricht immer wieder von Gottes Barmherzigkeit. In Hosea 11 kehrt sich gerade angesichts des Elends des sündigen Volkes das Innerste Gottes um und seine Barmherzigkeit siegt gegenüber aller Gerechtigkeit „denn Gott bin ich, nicht Mann“, so die wörtliche Übersetzung von Hos 11,9. „Der Herr ist gnädig und barmherzig“ betet der Psalmist in Ps 111,4 ganz ähnlich der basmala. Auch die Reaktion des barmherzigen Vaters im Lukasevangelium (Lk 15) auf den Anblick des verloren geglaubten Sohnes wird mit einem nur hier gebrauchten griechischen Wort geschildert, das auf den Ursprung der Barmherzigkeit zurückgreift: seine Eingeweide kehren sich um vor Mitleid! Sehr interessant ist, dass nicht barmherzig sein nur von Menschen, nie aber von Gott ausgesagt wird. Der Glaube an  die Barmherzigkeit des einen Gottes verbindet also die drei monotheistischen Religionen in ihrem Kernbereich. Angesichts dieser Aussage kann es ruhig in Gottes Hände gelegt werden, die unterschiedlichen gläubigen Antworten anzunehmen.

Dr. Ulrike Bechmann ist katholische Theologin und Islamwissenschaftlerin aus Bayreuth.

Quelle: http://www.al-sakina.de/