Scharia Teil 6

Quran_Scharia

Idschtihad

Viel Aufhebens wurde über das Schließen des Tores des Idschtihad gemacht, doch es folgte danach eine einsetzende Starrheit und die Notwendigkeit, es heute weit zu öffnen. Wir haben schon kurz erwähnt, wie es dazu kam. In den ersten fünf Jahrhunderten des Islam funktionierte der Idschtihad als dynamische Einrichtung. Der gigantische intellektuelle Aufschwung, der durch das Studium der Scharia herbeigeführt wurde, hat wenige Parallelen. Später, auf Grund solcher Umstände wie die Mongoleninvasion und die Vorherrschaft des Westens, mussten sich die Muslime auf das formale Recht zurückziehen, um die Identität der Umma zu wahren. Doch selbst dann, wenn das Tor mutmaßlich geschlossen war, machte man bei neuen Situationen Anstrengungen, um neue Lösungen zu finden. Natürlich haben diese Lösungen Koran, Sunna und Idschma‘ nicht verworfen.

Idschtihad kann nur von denen ausgeübt werden, die dazu fähig und kompetent sind und über Wissen und Einsicht verfügen, und vor allem über den entsprechenden Charakter und die Frömmigkeit, um die bedeutsame und heilige Aufgabe der Bestimmung der Scharia zu erfüllen. Was immer man über die Strenge und Starrheit oder sonstige von der Orthodoxie erzwungenen Eigenschaften sagen will, letztendlich bleibt das einzige Kriterium doch nur, dass jeder neue Idschtihad von den Massen der Muslime angenommen werden muss, weil der Islam seine Offenbarungen nicht der Obhut einer „Kirche“ anvertraut hat.

Eines ist sicher: die Muslime werden niemals den Idschtihad eines Kemal Atatürk, Nasser oder Sukarno akzeptieren. Ein Abu Hanifa, der im Gefängnis starb und wegen seiner Ansichten ausgepeitscht wurde, oder ein Ahmad Ibn Hanbal, wegen seiner Meinungen verfolgt und gepeitscht, werden viel eher angenommen, wegen der bloßen Tiefe ihres Glaubens, ihrer Beharrlichkeit, Treue, Frömmigkeit und ihres Wissens. Die Ethik der Modernisten beruht allzu oft auf der Zweckdienlichkeit statt auf beispielhafter Glaubenspraxis. So erstaunt es nicht, dass sie nicht vorankommen.

Was heute gebraucht wird ist eine Generation von muslimischen Gelehrten, die den Koran und die Sunna kennen, die den Wert ihres eintausendvierhundertjährigen Erbes voll begreifen, die sich im westlichen Gedankengut und den Stärken und Schwächen der Moderne bestens auskennen, die voll intellektueller Kraft und ursprünglichen Denken sind, um die Fragen erneut anzugehen, und die vor allem über die moralischen und spirituellen Kräfte verfügen, die von ihrer Unterwerfung und Treue zu Gott und Seinem Propheten zeugen. Und solche Gelehrte müssen durch politische Herrscher unterstützt werden, die den Idschtihad nicht als Notausgang betrachten, sondern als die rechte Weise, nach der Scharia zu leben.

Leider befinden sich viele muslimische Gesellschaften, seit sie nach dem II. Weltkrieg ihre politische Unabhängigkeit wiedererlangten, in dauerndem Wechsel. Diejenigen, die von den Fremdherrschern die politische Macht übernahmen, sind aufgrund ihrer Bildung und Erziehung unfähig, die Masse der Muslime auf den weg zur Scharia zu führen. Umgekehrt halten die Massen daran fest, diesem Weg zu folgen, obwohl sie spirituell und moralisch schwach sind. Das Ergebnis sind schwerwiegende innere Konflikte und Spannungen. Die nichtmuslimischen Minderheiten in den muslimischen Ländern und im Westen, und auch die internationalen Beobachter, tun gut daran, diesen manchmal schmerzhaften Prozess die eigene Identität wieder zu finden, nicht zu behindern, sondern sollten versuchen, ihn zu verstehen, wenn sie können.

Richtungen und Rechtschulen

Stellen nicht verschiedene Rechtsschulen und Richtungen gewaltige Probleme bei der Anwendung der Scharia dar? In gewisser Weise schon. Wie man weiß, gab es in der intellektuellen „goldenen Epoche“, während der ersten vier Jahrhunderte des Islam, zahllose Gelehrte und hunderte von Rechtsschulen, aber nur vier davon haben bei den Sunniten überlebt, und die meisten Schi’iten folgen Dschafar As-Sahdiq. Die hanafitische Rechtsschule überwiegt in Bangladesh, Pakistan, Indien, Afghanistan, West-Asien, Unter-Ägypten, die Malikiten in Nord- und West-Afrika, die Schafi’iten in Indonesien und Malaysia, die Hanbaliten in Arabien und die Dschafariten im Iran und Teilen des Irak.

Obwohl es Zeiten des Dogmatismus, des gewaltsamen Richtungsstreits und starrer Haltungen gegeben hat (doch keine vergleichbar mit dem Ausmaß der Religionskriege in Europa), sinken die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulen zur Unbedeutsamkeit herab, wenn man ihre Gemeinsamkeiten vergleicht. In den wesentlichen Grundsätzen gibt es kaum Unterschiede. Meinungsverschiedenheiten ergeben sich wie bei zwei Gerichten, die versuchen das gleiche Gesetz auszulegen und dabei zu unterschiedlichen Schlüssen kommen können. Die Unterschiede mögen zu Problemen führen, aber sie sind nicht unüberwindlich. Obwohl es schwer sein mag, zur Tradition der frühesten Zeit des Islam zurückzukehren, ist eine Lösung dadurch möglich, dass die Muslime in jeder Region die Scharia durch den Konsens von Personen anwenden, denen die Mehrheit vertraut, während im Bereich des Personenrechts jeder Richtung freigestellt sein sollte, ihrem eigenen Rechtssystem anzuhängen.

Islam_Gemeinschaft

Muslimische Minderheiten

Heute leben große muslimische Gemeinden in nichtmuslimischen Ländern. Viele haben sich sogar im Westen niedergelassen. Wie können sie nach der Scharia leben? Offensichtlich haben sie die Absicht, dort zu bleiben, wo sie sich jetzt befinden, und ihren eigenen erkennbaren Beitrag zu den Gesellschaften um sie herum zu leisten. Dieser Beitrag wird auf der reichen Kultur des Islam beruhen, deren Herzstück die Scharia ist. dass eine große Mehrheit unter äußerst schwierigen Umständen weiter versucht, die Scharia so gut es geht zu befolgen, ist ein weiterer Beweis für ihre starken Wurzeln.

Leider sehen sich die Muslime in nichtmuslimischen Ländern, besonders im Westen, bei ihren Versuchen, die Scharia zu befolgen, vielen Schwierigkeiten und großen Härten ausgesetzt. Diese Schwierigkeiten riechen bis zu einfachen und geringfügigen Alltagsfragen wie die Gebetsriten oder was man essen, trinken und als Kleidung tragen darf. Zum Beispiel gibt es nur wenige wirkliche Gelegenheiten, am Freitagsgottesdienst teilzunehmen, oder in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen angemessene Beköstigung zu erhalten. Tatsächlich hat in vielen Fällen die Mehrheit der Bevölkerung und ihre Regierung die Tatsache der Existenz von Muslime unter sich nicht anerkannt.

Bemühungen, die Muslime der dominanten Kultur auf Kosten ihres Islam zu assimilieren, werden dieser Kultur nichts nützen. Muslime, die sich der Scharia entgegen verhalten, leben mit einem dauernden inneren Schuldgefühl, weil sie wissen, dass sie ihr eigenes Gewissen betrogen haben. Solche Menschen sind für keine Gesellschaft von großem Nutzen.

Schluss:

Wenn ein Außenstehender auch bei einzelnen Vorschriften der Scharia seine Zweifel haben mag, sollte es ihm trotzdem möglich sein, ihre tiefen Grundlagen, ihren festen Rahmen und die atemberaubende Schönheit einer Institution zu sehen, die zu einer der feinsten menschlichen Kulturen führte und die bis zum heutigen Tag fortfährt, jeden fünften Menschen zu tragen und zu inspirieren, der auf diesem Erdball lebt. Denn Scharia heißt wörtlich der Weg zum Wasser – die Quelle des Lebens.

Quelle: Al-Islam Magazin, von Khurram Murad

Scharia – Der Weg zu Gott

Scharia – Teil II

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