Tauhid / Tawhid (Teil2)

tawhid

Ein Aspekt des tauhid sollte berücksichtigt werden, um das Studium der verschiedenen Ausprägungen einer echten Bindung an Gott zu vervollständigen.

Die Beziehung des Menschen zu Gott schließt eine besondere Beziehung zum Universum mit ein. Der Wille Gottes, der dem Menschen offenbart wird, vermittelt ihm die Vorstellung einer Gesellschaft, die moralische Werte zu verwirklichen strebt; die Vorstellung eines Menschen, der in Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen ein gesundes, sozial gesichertes und moralisch gutes Leben führt und der Gottes Gebot in all seinem Tun befolgt. Diese Vorstellung weckt im Menschen den Willen, die Welt um sich herum so zu verändern, wie Gott sie gewollt hat. Damit erfüllt er die Aufgabe eines Muslim, denn sein Auftrag bezieht sich auf diese Welt und verlangt ein bestimmtes Handeln in diesem Leben. Das Bewusstsein eines Auftrags entsteht zugleich mit der Bindung an Gott und ist ein notwendiger Teil davon, nicht nur eine Folgerung oder ein Nebenprodukt dieser Selbsthingabe.

Die Bindung an Gott und der damit verbundene Auftrag bewirken eine positive Haltung des Menschen zur Natur, denn der Mensch braucht Hilfsquellen, um seinen Auftrag zu erfüllen und zu seinem Glauben zu stehen. Sobald mehrere einzelne Menschen, die in gleicher Weise glauben und sich verpflichtet wissen, zusammen kommen, werden sie zur umma, (Gemeinschaft) die in der Menschheit einen Auftrag und in der Geschichte einen bestimmten Platz hat. Die Aufgabe des Propheten ist es, die umma durch den Prozess des tauhid zu führen und ihr zur erfolgreichen Durchführung ihres Auftrags zu verhelfen. Der gesamte Prozess der Befreiung, nämlich die Rückgewinnung der Vernunft und des unabhängigen Urteils, die Anerkennung der offenbarten Rechtleitung und die daraus sich ergebende Umwandlung des Einzelnen und der Gemeinschaft (eine Umwandlung, die sich wie die Offenbarung nach und nach in einer bestimmten Zeitspanne vollzieht), ist eine Bewegung, die zur umma führt. Die islamische Gesellschaft und der islamische Staat sind sowohl das Ergebnis dieser Umwandlung als auch das Instrument ihrer weiteren Ausbreitung, bis sie die ganze Menschheit erfasst. Von Anfang an ist es eine dynamische Bewegung, und ihre Dynamik nimmt zu mit den sich ändernden Umständen und mit der wachsenden Anzahl von Menschen. Sie bezieht immer neue Länder, Völker und Generationen mit ein.

Wie der Qur’an betont, ist dieser Prozess immer von zentraler Bedeutung für die gesamte Menschheit und nicht nur für ein bestimmtes Volk oder nur für Muslime.

Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen erstand. Ihr heißt was Rechtens ist und ihr verbietet das Unrechte und glaubt an Allah. (Sura 3:106)

So machten wir euch zu einem Volk in der Mitte auf dass ihr Zeugen seid in Betreff der Menschen, und der Gesandte wird in Betreff eurer Zeuge sein. (Sura 2:137)

Es ist bemerkenswert, dass die zentralen Begriffe ma’ruf (was Rechtens ist) und munkar (das Unrechte), wie sie in dem zitierten Vers 3,106 gebraucht werden, moralische Grundbegriffe sind, die man nur im Zusammenhang mit dem Menschen verwenden kann. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, mit gesundem Urteil und ausgewogenem Wissen durch das Licht, dass Gott ihm bei seiner Erschaffung gab, das Gute und Böse zu unterscheiden. Die Offenbarungen erinnern an diesen Tatbestand. Was im Qur’an als ma’ruf oder munkar bezeichnet wird, ist natürlich Recht oder Unrecht. Aber die wertorientierte Vernunft des Menschen ist fähig, dieses Prinzip auch auf neue Situationen anzuwenden.

Jeder, der die Entwicklung der muslimischen umma unter der Leitung des Propheten Muhammad salla.gif sorgfältig verfolgt, wird den großen Einfluss dieses Prinzips des allmählich fortschreitenden Prozesses bewundern. eine solche Studie offenbart die zentrale Bedeutung von idschtihad (Kampf um eine integre islamische Persönlichkeit und Gemeinschaft) und Wissen auf dem Weg der umma. Sie sind die direkten Ergebnisse der Befreiung und Wiederherstellung menschlichen Denkens und der missionarische Geist der umma. Um eine solche Untersuchung zu ergänzen, sei hier auf folgende Punkte aus der Geschichte des Islam hingewiesen:

1. Am Anfang der Entwicklung beschränkte sich das, was Gott vom Menschen verlangte, auf die moralischen Grundwerte, die Ausrichtung auf die richtigen Ziele und auf die Normen eines anständigen Lebens. Die Rechtsvorschriften der schari’a folgten später.

Gleichheit und Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, Mitleid und Güte, der Vorrang des allgemeinen Wohls vor dem des einzelnen, die Annahme des Prinzips, dass die Regierungsmacht auf Übereinstimmung und gegenseitiger Beratung beruht, die Heiligkeit der Familie und dass sexuelle Beziehungen ehevertraglich geordnet sein sollen, die Betonung der Mitmenschlichkeit und die Anerkennung des Anspruchs der Gesellschaft auf privates ‚Eigentum – das sind einige der Werte und Regeln, die in den mekkanischen Suren des Qur’an enthalten sind. (Siehe Sura 16,17,31 und andere)

In der damaligen Situation war es für die Menschen selbstverständlich, dass sie ihr eigenes Urteilsvermögen gebrauchten, um diese Werte in die Praxis umzusetzen, Vorschriften anzupassen oder durch neue in den bestehenden gesellschaftlichen Institutionen gemäß den offenbarten Verhaltensregeln zu ersetzen.

2. Wenn wir die genaueren Vorschriften, die später in Medina offenbart wurden, betrachten, so erkennen wir, dass sie den Zweck haben, in der Praxis genau die Regeln zu verwirklichen, die in der früheren Phase aufgestellt wurden. Die Gesetze wurden denen gegeben, die sich bereits nach den betreffenden Werten richteten und sich darum bemühten, sie in die Praxis umzusetzen. Diese Gläubigen konnten sehr wohl den wichtigen Zusammenhang zwischen den spezifischen und den grundsätzlichen Zielen, auf die sie ausgerichtet waren, erkennen, und so hatten sie ein klares Wissen um die Prioritäten und die Rangordnung in der gesamten schari’a – die anzustrebenden Wertvorstellungen und die einzelnen Vorschriften. Mitteln, Ableitungen und Ergänzungen in diesem System bilden Zusammenhänge, die von zentraler Bedeutung sind für die wichtigen Ziele des Lebens, zu denen die gesamte offenbarte Rechtleitung den Menschen führt. Ein Verständnis für diese Beziehungen ist notwendig für die Anwendung des Systems in wechselnden Situationen. Dieses Verständnis entstand natürlicherweise, als die Offenbarung eine Dynamik der Anstrengungen auslöste, welche die umma unternahm, um den Auftrag zu erfüllen: nämlich so zu leben, wie Gott es von ihnen wollte, und die Welt gemäß den offenbarten Vorstellungen zu verändern.

Die Rolle des wertorientierten Verstandes und des von dem Auftrag inspirierten Willens lag darin, diese Vorschriften im praktischen Leben zu befolgen als Teil des fortdauernden Prozesses, der mit der Bindung an Gott begonnen hatte, durch eine Phase der Wertorientierung gegangen war und nun weiterführen sollte zur Verwirklichung des Auftrags. Niemals wäre ihnen der Gedanke gekommen, dass, wenn sie nur die Vorschriften befolgten, alle Forderungen der Religion erfüllt wären und ihnen nichts mehr zu tun übrig bliebe. denn sie waren sich bereits der umfassenderen Erfordernisse und der größeren Bedeutung ihrer Bindung an Gott bewusst.

3. Ein anderer wichtiger Punkt, der erwähnt werden sollte, bezieht sich auf die Ausrichtung des menschlichen Lebens durch die schari’a. Am ausführlichsten geht die schari’a auf all das ein, was das persönliche Leben des einzelnen betrifft: Sauberkeit von Körper und Geist, die ständige Verbindung mit Gott durch das Gebet usw. Dann folgt das Familienleben einschließlich der damit verbundenen sozio-ökonomischen Zusammenhänge. Handel, Wirtschaft und Finanzwesen werden durch einige spezifische, vorwiegend aber allgemeine Anweisungen abgedeckt. Ebenso verhält es sich im Bereich der Politik, der Soziologie und der internationalen Beziehungen.

Der Grund dafür liegt nahe. die sozio-ökonomischen und politischen Entscheidungen hängen weitgehend ab von dem Fortschritt der Wissenschaft und der Technologie, und in veränderten Situationen müssen neue Formen gefunden werden, um die moralischen Werte zu realisieren. Der wertorientierte Verstand und der von dem Auftrag inspirierte Wille der umma vermag dies leicht aufgrund der Prinzipien, die in der Offenbarung enthalten sind.

Die Wertorientierung des Menschen und sein Einsatz für den Auftrag, die gesamte Menschheit zu einem wertorientierten Leben zu führen, bestimmen jedoch sein Handeln in Wissenschaft, Technologie, Handel, Industrie, Wirtschaft und Gemeinschaftsleben, soweit es nicht direkt von der schari’a festgelegt ist. Von dieser nimmt er die Richtlinien für ein wertorientiertes Leben, und daraus entwickelt er neue Formen menschlicher Beziehungen, welche wiederum einen neuen Antrieb zur Verwirklichung der Grundwerte geben.

Die offenbarte Rechtleitung einerseits und die Dynamik des Lebens, das immer neue Situationen schafft, verlangen darum eine aktive Rolle des menschlichen Intellekts. Bei den genau vorgeschriebenen Handlungen. wie z.B. dem Gebet, reicht das einfache Verstehen, Durchdenken und vernünftige Anwenden der Vorschrift. Bei Gebieten, die nur in den Grundzügen von der schari’a geregelt werden oder die das eigentlich religiöse Leben nur indirekt betreffen, insofern auch sie wie Wissenschaft und Technologie, auf das Endziel des Lebens ausgerichtet sind, wird von dem Verstand weit mehr gefordert, nämlich unabhängiges Urteil oder idschtihad. Die Gedanken, die wir hier angesprochen haben, verdeutlichen die zentrale Bedeutung des idschtihad für ein dem Islam gemäßes Leben. Idschtihad bedeutet einerseits Durchführung des Auftrags, nämlich die Wiederherstellung der menschlichen Gesellschaft, wie Gott sie will, und bedingt zweitens die Dynamik der Bewegung auf ihr Ziel hin.

Dieser Auftrag setzt Gesundheit, materielle Mittel, Einfluss und Organisation voraus. Er verlangt harte Arbeit und erwartet Leistung. Das bedeutet nicht, dass der Drang zu produktiven Unternehmungen, harter Arbeit und Leistung allein von dem islamischen Auftrag herrühren. Diese Verhaltensweisen haben ihre eigenen Wurzeln in der Natur des Menschen und in seinen Lebensbedingungen, und der Islam schneidet diese Wurzeln nicht ab. Gemeint ist, dass diese Antriebe neue Kraft erhalten und auf ein neues Ziel gerichtet werden, welches letztlich eher gemeinschaftsbezogen als egoistisch ist (wozu diese Antriebe in einem Leben degenerieren, das nicht auf Gott bezogen ist). Der Islam ermutigt mit großer Kraft die weltlichen Anstrengungen aber er lenkt sie in die richtigen Bahnen, indem er dem Auftrag für die Menschheit, den die umma hat, den Vorrang einräumt. Es ist unvorstellbar, dass ein Muslim mit dem Bewusstsein dieses Auftrags gleichgültig oder untätig bleibt, während die Menschen verhungern und die islamische Bewegung Hilfsmittel braucht, um voran zu kommen. Desgleichen muss der Anspruch an Leistung, Disziplin und Organisation hoch sein für die, die in der Geschichte eine Rolle zu spielen haben.

Am wichtigsten aber ist das Verhältnis dieser Menschen zum Wissen, seiner Aneignung und Einordnung, seiner Verbreitung und seinem Gebrauch. Von der ersten Offenbarung an wurde betont, dass Wissen unentbehrlich für das Menschsein ist. (-5)

Das wird deutlich gemacht in der qur’anischen Geschichte vom ersten Menschen. (Siehe Sura 2:29)

Es wird als Basis eines guten religiösen Lebens bezeichnet. (Siehe Sura 35:28)

Nur für Menschen mit Wissen kann die Hingabe an Gott und seinen Auftrag wirklich echt sein. Eben dieser Auftrag, den die umma für die Menschheit hat, wird mit Worten beschrieben, die das Wissen von Gut und Böse voraussetzen. Das Streben nach Wissen ist darum zur Pflicht erklärt worden für jeden Mann und jede Frau, und Gelehrsamkeit ist von dem Propheten salla.gif hoch gepriesen worden.

Könnte ein Mensch, der die Gesellschaft gemäß den Vorstellungen einer guten Gesellschaft verändern will, wie er sie den offenbarten Anweisungen entnimmt, davor zurückschrecken, diese Welt zunächst so zu erkennen, wie sie ist? Ist es vorstellbar, dass er sich nicht bemüht, die offenbarten Anweisungen zu verstehen? Die Antwort ist offensichtlich: nein. Beides ist gleich notwendig für die Durchführung des Auftrags, welcher Zentrum und Ziel des religiösen Lebens im Islam ist.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Wissen, um das sich der Muslim bemühen muss, zwei verschiedene Dimensionen hat. Die eine ist die Kenntnis der Offenbarung Gottes, nämlich wie der Mensch nach dem Willen Gottes leben soll, was gut und schlecht, richtig und falsch ist im Licht der offenbarten Wahrheit. Die zweite ist die Kenntnis der Menschen, der Gesellschaft, der Natur und all dessen, was wichtig ist für ein richtiges Handeln im Leben auf dieser Erde. Beide Dimensionen sind von entscheidender Bedeutung für idschtihad, und beide sind unverzichtbare Voraussetzung, um wahrhaft islamisch zu leben. Das Wissen um das, was zu ändern ist, ist nicht weniger wichtig als das Wissen, woraufhin es zu ändern ist. Ebenso ist das Wissen um die Mittel und Wege der Veränderung, um das Ziel zu erreichen, genau so wichtig wie das Wissen um das Ziel selbst. Dieses muß klar gesagt werden, um die falschen Vorstellung zurückzuweisen, die von machen vertreten wird, dass nämlich Wissen, wie es in Qur’an und Sunna gefordert wird, sich nur auf „Religion“ bezieht. Dies kann nicht so sein, denn ein religiöses Leben muss in dieser Welt geführt werden. Man muss diese darum kennen, um ein Leben in ihr möglich zu machen. Es ist auch eine unhaltbare Behauptung angesichts der Tatsache, das „Religion“ kein geschlossenes System ist, sondern durch idschtihad offen für eine Ausweitung auf neue Situationen, die analysiert und verstanden werden müssen, bevor sie in die Religion einbezogen werden. Schließlich hat die oben erwähnte Behauptung keine Grundlage, wenn man bedenkt, dass die Begriffe „Wissen“ und „Menschen, die wissen“ schon in sehr frühen Teilen der Offenbarung gebraucht werden, als noch kaum etwas von der schari’a offenbart war.

Was wir als die zweite Dimension des Wissens, wie es der Qur’an fordert, bezeichnet haben, neben der Kenntnis der Religion, ist im wesentlichen die Wissenschaft, sowohl die Naturwissenschaft als auch die Geisteswissenschaft. Die Naturwissenschaften, die Physik, Chemie, Zoologie, Botanik, Medizin usw. erforschen die Natur und ihre Erscheinungen, wogegen die Geisteswissenschaften den Menschen, seine Gesellschaftsformen, die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge usw. untersuchen. All dies ist wichtig für wahren idschtihad, welcher allein den Menschen befähigen kann, darüber nachzudenken, wie er Wertvorstellungen realisieren und ein islamisches Leben führen kann. Abhängig von den Wissenschaften ist es die Technologie, welche von größter Bedeutung für den idschtihad ist, nämlich für die Bemühungen, das wissenschaftliche Denken in Handeln umzusetzen. Mit Technologie meinen wir nicht nur Maschinen und Rationalisierungsverfahren, sondern auch Massenmedien, Organisation und Management. Je ernsthafter eine Gesellschaft gesinnt ist, den Willen Gottes im Leben zu erfüllen, umso wirksamer soll sie sich all der modernen technischen Mitteln bedienen, die ihr zur Verfügung stehen. Sie soll auch an der Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technologie anbieten, so dass ihr Auftrag – die Wiederherstellung eines menschenwürdigen Lebens auf der Erde in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes – in der besten und wirksamsten Weise erreicht werden kann.

Quelle: Al-Islam, Autor: M.Nejatullah Siddiqi, Übersetzung: Arifa Caspary